Bei langfristig anhaltenden oder wiederkehrenden Symptomen sollte an die Depersonalisations-/Derealisationsstörung gedacht werden, wenn die Symptomatik einen großen Einfluss auf die Lebensqualität hat. Einzelne Symptome, die keinen Leidensdruck verursachen, reichen für eine Diagnosestellung dieser Störung nicht aus und weisen möglichlicherweise auf andere psychische Erkrankungen hin.
Typischerweise beginnt das Störungsbild im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter, in der Regel bis ca. 25 Jahren. Sollte sich die Symptomatik jedoch erst nach dem 40. Lebensjahr manifestieren, weist die amerikanische Psychiaterin Daphne Simeon darauf hin, eine gründliche medizinische Untersuchung vornehmen zu lassen, da die Symptome u.a. auch begleitend bei postviralen Syndromen, z.B. bei Long- und Post Covid-19, auftreten können.
Das Erscheinungsbild der Depersonalisations-/Derealisationsstörung weist unterschiedliche Schweregrade auf, die von leicht, über moderat bis schwerwiegend gehen können, wobei die Betroffenen dabei unterschiedlich in ihrem Alltag eingeschränkt sein können.
Frauen und Männer sind ungefähr gleich häufig betroffen.
Die Diagnose
Diagnosen von psychischen/psychiatrischen Erkrankungen erfolgen bei Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen mit Hilfe eines diagnostischen Prozesses, der multimodal ist, d.h. verschiedene Quellen werden bei der Diagnostik zugrunde gelegt, z.B. die Symptome, die Vorgeschichte, aber auch die Verhaltensbeobachtung oder die Wahrnehmung der Fachleute.
Es gibt keinen Laborwert, der eine eindeutige Diagnose zulässt, jedoch sollte immer zusätzlich eine ausführliche körperliche Untersuchung erfolgen, um andere Störungen ausschließen zu können, weil die Symptomatik auch begleitend bei einigen körperlichen Erkrankungen (z.B. Migräne, Epilepsie, Hirnverletzungen etc.) auftreten kann.
Da die Symptome von Depersonalisation und Derealisation transdiagnostisch sind (d.h. sie treten bei einer Vielzahl von psychiatrischen Erkrankungen, bzw. Diagnosen auf) und es gleichzeitig vielen Betroffenen schwerfällt ihr Leiden in Worte zu fassen, kann es zu Fehldiagnosen auf Seiten der Fachleute kommen, wodurch eine bestehende Depersonalisations-/Derealisationsstörung über Jahre hinweg unerkannt bleiben kann.
Während auf der einen Seite Psychiater:innen die Symptome oftmals nur als Begleitsymptome von anderen Krankheitsbildern verstehen (wie z.B. Depression oder Angststörungen), erkennen auf der anderen Seite Traumatherapeut:innen, denen zwar die Symptome Depersonalisation und Derealisation in der Regel bekannt sind, leider nicht die besondere Dynamik der Depersonalisations-/Derealisationsstörung und ordnen die Symptome häufig eher zweitrangig einer Traumafolgestörung unter.
Hinweis: Nach ICD-11 kann beim Vorliegen der diagnostischen Anforderungen zusätzlich zur PTBS, die Depersonalisations/-Derealistionsstörung als Diagnose vergeben werden.
Vor diesem Hintergrund gilt die Depersonalisations-/Derealisationsstörung weiterhin als stark unterdiagnostiziert, obwohl in der Forschungsliteratur davon ausgegangen wird, dass ca. 1 % der Bevölkerung davon betroffen ist (das ist ähnlich häufig wie Epilepsie). Die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung der Betroffenen ist nach wie vor unzureichend, wodurch sich eine spezifische Behandlung verzögert und der Leidensweg der Betroffenen verlängert wird.
Tipp! Mauricio Sierra, einer der führenden Experten der Depersonalisations-/Derealisationsstörung, schlägt deshalb vor, sich mit dem Selbstberichtsfragebogen Cambridge-Depersonalization Scale (CDS) vertraut zu machen und diesen ggf. in die ärztliche oder therapeutische Sprechstunde zur diagnostischen Abklärung, mitzunehmen. Es ist nicht davon auszugehen, dass dieser Fragebogen bereits in den einzelnen Praxen bekannt ist. |
Ähnlich wie bei anderen psychischen Erkrankungen gibt es auch bei der Depersonalisations-/Derealisationsstörung unterschiedliche Schweregrade. Laut Mauricio Sierra lässt sich deren Schweregrad daran festmachen, wie häufig Depersonalisation und/oder Derealisation auftreten, wie lange sie jeweils anhalten, wie groß die erlebte Symptomstärke ist und wie viele verschiedene Symptome der Störung sich zeigen.
Die hohe Symptomvielfalt ist ein herausragendes Merkmal der Störung. Je nachdem welche der folgenden auftretenden Symptomgruppen - anomale Körpererfahrung, Unwirklichkeit des Selbst, Wahrnehmungsveränderungen, emotionales oder physisches Betäubungserleben, Entfremdung/Unwirklichkeit der Umgebung, veränderte Zeitwahrnehmung, anomale subjektive Erinnerung - wie stark ausgeprägt sind und welche davon im Vergleich zu den übrigen überwiegen, können sich auf individueller Ebene teils variierende Erscheinungsbilder der Depersonalisations-/Derealisationsstörung ergeben. Allerdings wird diese Vielfalt bislang bei der Diagnostik oftmals fehlgedeutet, denn es gibt nach Millman et al. (2021) eine große Überlappung zu den Angst - und weiteren dissoziativen Störungen, was wiederum ein zusätzlicher Faktor für mögliche Fehldiagnosen sein kann.
Verlauf
Die Depersonalisations-/Derealisationsstörung kann verschiedenartige Krankheitsverläufe nehmen. Bei einem Teil der erkrankten Personen treten die ersten Symptome von einem Moment zum anderen plötzlich auf. Bei einem anderen Teil beginnen Depersonalisation und/oder Derealisation schleichend und verfestigen sich nach und nach, wodurch es manchen Betroffenen schwerfallen kann, einen klaren Startzeitpunkt der Symptome zu benennen. Daphne Simeon sowie Elaine Hunter (Leiterin der Depersonalisationsklinik in England) berichten, dass einige Betroffene bereits seit ihrer Kindheit fortdauernd in irgendeiner Form Symptome von Depersonalisation und/oder Derealisation verspürt haben, wovon manche sich nicht an ein Leben ohne diese Symptome erinnern können.
Bei einem Großteil der Betroffenen verläuft die Störung über Jahre lang anhaltend. Dabei gibt es Betroffene, bei denen die Symptome von Anfang an dauerhaft vorhanden sind, während bei anderen Betroffenen der Beginn durch einen allmählichen, episodischen Verlauf gekennzeichnet ist, welcher in eine dauerhafte Form übergehen kann. Bei wiederum anderen betroffenen Personen hingegen treten die Symptome wiederholt in Episoden auf. Diese wiederauftretenden Phasen können unterschiedlich lang andauern von Tagen, über Monate oder Jahre.
Die Symptomstärke kann ebenfalls variieren und individuell sehr verschieden sein. Einige Betroffene berichten über einen stark schwankenden Verlauf, während andere die Symptomatik in ihrer Stärke eher fast gleichbleibend erleben.
Hinweis:
Diese Informationen dienen nicht der Selbstdiagnostik und ersetzen in keinem Fall eine Beratung und Diagnostik durch Gesundheitsexpert:innen.
Verwendete Literatur:
Cambridge Depersonalisation Scale (CDS)
Caspar F. et al. (2018). Klinische Psychologie. Springer Fachmedien: Wiesbaden
Mental Health America: Life Doesn’t Feel Real Anymore: Dissociation in the Time of COVID-19
Simeon, D. et al. (2003). Feeling unreal: a depersonalization disorder update of 117 cases. J Clin Psychiatry Sep;64(9):990-7.
Simeon, D., & Abugel, J. (2023). Feeling Unreal 2nd edition. Oxford University Press: Oxford