Diagnosekriterien

Fachpersonen orientieren sich für die Diagnosestellung unter anderem an sogenannten Diagnosemanualen. Hierfür stehen zwei international anerkannte Klassifikationssysteme zur Verfügung: zum einen das US-amerikanische DSM-5, sowie die internationale ICD-10, bzw. die neue ICD-11 der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Für die (deutschen) Krankenkassen ist die ICD-10 bzw. ICD-11 Klassifikation maßgeblich, damit Behandlungskosten übernommen werden können.

Nach den Diagnosekriterien dieser Klassifikationssysteme müssen die Symptome von Depersonalisation und Derealisation im Vordergrund stehen und dürfen nicht bloß sekundär im Rahmen anderer psychischer Erkrankungen (wie z.B. Angststörungen, Depression, Posttraumatische Belastungsstörung etc.) auftreten.

Diagnosekriterien der Depersonalisations-/Derealisationsstörung

DSM-5 (300.6)
Das DSM-5 listet fünf Kriterien (A-E) für die Depersonalisations-/Derealisationsstörung auf, wobei die letzten zwei (D und E) Ausschlusskriterien der Störung beschreiben.

Betroffene empfinden ihre Symptomatik meist als extrem belastend, wodurch die Lebensqualität stark beeinträchtigt wird. Sie können in ihrem täglichen Leben, sozialen Umfeld, bei Ausbildungsanforderungen, in der Schule, in ihrer Arbeitsfähigkeit oder Beziehungen beeinträchtigt sein (Kriterium C), wodurch der subjektiv empfundene Leidensdruck sehr hoch sein kann. Um eine Funktionsfähigkeit in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten, bedarf es einer zusätzlich belastenden Anstrengung der Betroffenen, aufgrund dessen wiederum lang anhaltende Erschöpfungszustände begleitend auftreten können.

Das Kriterium A beschreibt in sehr verkürzter Form auf der einen Seite:

  • Depersonalisation (Erfahrungen der Unwirklichkeit, des Losgelöstseins oder des Sich-Erlebens als außenstehender Beobachter bezüglich eigener Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, des Körpers oder Handlungen) und auf der anderen Seite
  • Derealisation (Erfahrungen der Unwirklichkeit oder des Losgelöstseins bezüglich der Umgebung), die entweder andauernd oder immer wiederkehrend auftreten müssen, damit die Diagnose vergeben werden kann.


Diese verkürzten Beschreibungen wurden von Mauricio Sierra sowie von Daphne Simeon, als unzureichend und als zu vereinfachend bezeichnet, da sich im klinischen Alltag die Depersonalisations-/Derealisationsstörung als Syndrom mit einer Vielzahl von Symptomen darstellt. Diese unterschiedlichen Symptome, die als Kernsymptome der Störung im Selbstberichtsfragebogen CDS aufgeführt werden, können nach Sierra und Simeon verschiedenen Symptomgruppen zugeordnet werden. Dazu gehören nach Sierra:

  • Anomale Körpererfahrungen
  • Emotionale Betäubung
  • Anomale subjektive Erinnerung
  • Entfremdung von der Umwelt: Derealisation


Daphne Simeon, eine amerikanische Psychiaterin, die sich langjährig mit der Depersonalisations-/Derealisationsstörung beschäftigt hat, nutzt eine etwas andere Gruppierung, um die Komplexität der Störung zu beschreiben:

  • Unwirklichkeit des Selbst
  • emotionales oder physisches Betäubungserleben
  • Wahrnehmungsveränderung
  • zeitliche Auflösung
  • Unwirklichkeit der Umgebung: Derealisation


Das Kriterium B weist daraufhin, dass Betroffenen sehr bewusst ist, dass ihre Symptome innerhalb einer normalen Realitätswahrnehmung liegen und diese Symptome somit nicht wahnhaft (z.B. von anderen Personen "gemacht") von ihnen interpretiert werden. Dennoch haben viele Betroffene Angst "verrückt zu werden". Diese Angst ist jedoch, solange eine "als ob"-Symptomatik besteht (z.B. ich fühle mich, als ob ich mich in einem Traum befinde), unbegründet.

Erst, wenn all diese Kriterien vorliegen, wird von der Depersonalisations-/Derealisationsstörung gesprochen.
Zur Diagnosesicherung dienen zudem weitere Beschreibungen von Betroffenen:

  • viele befürchten, einen irreversiblen Hirnschaden erlitten zu haben, auch wenn dieser bereits durch bildgebende Verfahren ausgeschlossen wurde
  • Benommenheitsgefühle (sich wie auf Drogen zu fühlen, obwohl keine konsumiert wurden)
  • übermäßiges Grübeln über existenzielle Lebensinhalte
  • ständiges Überprüfen, ob man selbst noch real sei
  • visuelle Wahrnehmungsverzerrungen: Verschwommenheit oder überscharfes Sehen
  • ein verändertes Zeiterleben
  • das Gefühl von reduzierter Kontrolle über Bewegungen oder das Sprechen
  • ein generelles Gefühl, sich wie abgetrennt vom eigenen Leben zu fühlen


In den zusätzlichen diagnostischen Merkmalen werden im DSM-5 einige Beispiele aufgeführt, wie sich Betroffene in diesen Phasen, die wochen-, monate-, oder jahre-, für manche jahrzehntelang andauern können, fühlen:

  • Ich bin Niemand.
  • Ich habe kein Selbst.
  • Ich weiß, dass ich Gefühle habe, aber ich spüre sie nicht.
  • Mein Kopf ist wie mit Watte gefüllt.
  • Ich fühle mich wie ein Roboter.


Ausschlusskriterien

Die Diagnose wird nicht vergeben, wenn die Symptome aufgrund einer Substanzeinwirkung (Alkohol, Drogen etc.), beim Entzug oder im Rahmen einer somatischen Erkrankung auftreten (Kriterium D).
Die Diagnose wird auch nicht vergeben, wenn die Symptome ausschließlich sekundär begleitend zu anderen psychischen Störungen auftreten, auch nicht im Rahmen anderer dissoziativer Störungen (Kriterium E).

Ursula Gast weist jedoch darauf hin, dass in seltenen Fällen die Depersonalisations-/Derealisationsstörung eine schwere dissoziative Störung maskieren kann.

ICD-10 und ICD-11

Für eine Übergangszeit ist weiterhin bei den Krankenkassen die ICD-10 gültig, bis diese Klassifkation endgültig von der ICD-11 Klassifikation abgelöst wird. ICD-10 und ICD-11 unterscheiden sich jedoch bei der Depersonalisations-/Derealisationsstörung ganz wesentlich.

ICD-10 (F48.1)

In der ICD-10 wurde noch davon ausgegangen, dass die Depersonalisations-/Derealisationsstörung (dort als Depersonalisations- und Derealisationssyndrom aufgeführt) selten sei. Dieses konnte mittlerweile in vielen Studien widerlegt werden, und die Einschränkung wurde in die neue Klassifikation ICD-11 nicht mehr mit aufgenommen. Ebenfalls neu ist die Zuordnung zu den dissoziativen Störungen. Die Depersonalisations-/Derealisationsstörung unterscheidet sich allerdings in vielen Bereichen von den anderen dissoziativen Störungen.

Eine mögliche Erklärung für die Differenzierung bietet das Modell von Emily Holmes, Elaine Hunter et al. aus dem Jahr 2005, bei dem dissoziative Phänomene in zwei Gruppen aufgeteilt werden, die sich allerdings bei einer Person nicht gegenseitig ausschließen müssen. Die Begriffe, die zur Unterscheidung verwendet werden: "Detachment-Typ" und "Compartmentalization-Typ" sind etwas sperrig, wobei Depersonalisation sowie Derealisation unter den "Detachment-Typ" fallen.


ICD-11 (6B66)
Die Beschreibung der Störung wurde dem amerikanischen DSM-5 weitgehend angeglichen. Auch hier gilt, dass die Symptome von Depersonalisation, Derealisation oder von beiden anhaltend oder wiederkehrend auftreten müssen.


Verwendete Literatur:

Falkai, P., Wittchen, H.-U. (Hrsg.) (2018). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5®. Göttingen: Hogrefe

Gast, U. (2006). Die dissoziative Identitätsstörung – häufig fehldiagnostiziert. Deutsches Ärzteblatt, 103 (47)

Holmes et al. (2005) Are there two qualitatively distinct forms of dissociation? A review and some clinical implications. Clin Psychol Rev., 25(1), 1-23.

Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 11. Revision, ICD-11

Sierra, M. (2009). Depersonalization. A New Look at a Neglected Syndrome. Cambridge University Press: Cambridge

Simeon, D., & Abugel, J. (2023). Feeling Unreal 2nd edition. Oxford University Press: Oxford